„Wenn du einen Autisten kennst, dann kennst du einen Autisten – nicht alle.“

Menschen mit Autismus begegnen trotz oder gerade wegen zunehmender medialer Beachtung vielen Vorurteilen. Anlässlich des Autistic Pride Day am 18. Juni möchten wir einen jungen Mann vorstellen, den diese Voreingenommenheit ganz schön nervt. Dieser Artikel erschien bereits 2020 – da das Thema aber weiterhin aktuell ist, hat Tammo B. einer erneuten Veröffentlichung zugestimmt.

„Autismus wird beispielsweise in dem bekannten Film Rain Man vollkommen überzogen dargestellt“, meint Tammo B., 16 Jahre alt und selbst Autist. Er sieht in der eindimensionalen Darstellung von Menschen mit Autismus in Filmen, Serien und Medienberichten einen wichtigen Grund dafür, dass ihnen gegenüber so viele Vorurteile existieren. Denn die mediale Darstellung reduziert Autisten auf wenige Eigenschaften wie eine Inselbegabung, soziale Unverträglichkeit oder zwanghaftes Ordnungsverhalten.

Diese Vereinfachung findet auch Therapeutin Laura Belke von der Regionalstelle Bad Nauheim des Autismus-Therapieinstituts Langen problematisch: „Autismus hat viele Formen, unterschiedliche Ausprägungen und Schweregrade ohne klare Abgrenzungen. Und genauso verschieden sind auch die Menschen im Autismus-Spektrum.“

Als Tammo sechs Jahre alt war, wurde bei ihm das Asperger-Syndrom festgestellt, eine Form von Autismus. Der schulische Alltag stellte ihn vor Herausforderungen, die seine Mitschüler ohne Autismus nicht in dieser Weise hatten: Einschränkungen in der Auge-Hand-Koordination erschweren das Abschreiben von der Tafel. Auf ihn strömen Sinneswahrnehmungen ungefiltert ein und er lässt sich schnell von all den Eindrücken ablenken, sodass freies, konzentriertes Arbeiten schwierig für ihn ist. Außerdem gab es Missverständnisse, die Streit und auch Handgreiflichkeiten mit anderen zur Folge hatten. Eine Integrationshelferin unterstützte ihn über mehrere Schuljahre hinweg bei diesen Problemen. Heute besucht Tammo die 11. Klasse und wird in zwei Jahren das Abitur machen. Auf eine Integrationshelferin verzichtet er mittlerweile, weil er sich jetzt wohl fühlt und nach Selbstständigkeit strebt.

Vor große Herausforderungen stellt ihn weiterhin das Interpretieren von Gefühlen und Verhalten: „Ich hinterfrage nie, warum Leute irgendetwas gemacht haben.“ Vielen Menschen mit Autismus fällt es schwer, sich in andere hineinzuversetzen und vorzustellen, was sie denken oder fühlen oder welche Beweggründe sie haben. Das prägt einerseits schulische Leistungen: Bei Tammo fallen Interpretationsaufgaben viel schlechter aus als andere Aufgabenstellungen. Und natürlich beeinflusst es das gesamte Leben. Tammo schildert, dass er „eine Art sozialer Maske aufsetzt“, um sich anzupassen. Darin sieht er den größten Unterschied zu seinen Mitmenschen: Weniger in seinem eigenen Verhalten als vielmehr in der hohen Anstrengung, die es ihn kostet, soziale Codes zu entschlüsseln und sich in der Gesellschaft einzufinden.

Doch er hat ein Hobby gefunden, bei dem er ganz er selbst sein kann: Seit zwei Jahren spielt Tammo in einer experimentellen Theatergruppe mit: „Beim Theater muss ich mich nicht verstellen, Ich vermische mich mit der Rolle und bin so immer auch Teil der Rolle.“

Über solche Themen, rund um seine Diagnose und seinen Alltag mit Autismus spricht Tammo seit zweieinhalb Jahren mit Laura Belke im Rahmen einer Autismus-Therapie. Zu wissen, wo die eigenen Stärken und Schwächen liegen, um sich mit sich selbst und mit der Diagnose auseinanderzusetzen, sind wichtige Grundpfeiler der Therapie. Außerdem übt die Therapeutin mit ihm Verhalten, das die Gesellschaft erwartet, aber im Mindset von vielen Autisten keine Rolle spielt oder ihnen schwerfällt. Dazu gehören beispielsweise wechselseitige Gespräche oder Themen wie „Wozu ist eigentlich Smalltalk da und warum sollte ich manchmal über das Wetter reden?“

Auch über Autismus im Allgemeinen sprechen sie sehr viel und Tammo möchte andere über Autismus informieren und aufklären: „Vielleicht schaffe ich es damit, manche Vorurteile abzubauen – die nerven mich nämlich schon sehr. Autist ist nicht gleich Autist. Wir sind alle unterschiedlich und haben eigene Persönlichkeiten. Wenn du einen Autisten kennst, dann kennst du einen Autisten und nicht alle.“

Tammo wünscht sich, dass sich nicht immer die Autisten anpassen müssen, sondern auch die Gesellschaft versucht, Autismus besser zu verstehen und Rahmenbedingungen entsprechend zu verändern. Mit einem Gedankenexperiment möchte er andere dafür sensibilisieren: „Was würde wohl passieren, wenn wir den Spieß einmal umdrehen würden und in einer Welt voller Menschen mit Autismus lebten?!“